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I. Erfahrungen aus der eigenen Praxis
Gibt es Missbrauch- sexuellen Missbrauch- bei uns in der Gemeinde? Eine brisante Frage!
Sicher, Verfehlungen im sexuellen Bereich von Predigern, kirchlichen Angestellten oder
Mitarbeitern sind selten aber sie existieren und einige davon sind mir bekannt.
In meiner 15 jährigen Erfahrung als Therapeut, begegne ich dem Problem des Missbrauches
bei ungefähr 20% meiner Patienten, die fast alle Christen sind, die Hälfte davon
Adventisten, die andere Hälfte Katholiken oder Protestanten. Zudem handelt es sich bei
99% der Patienten eigentlich um Patientinnen (Mädchen, Frauen). Im folgenden wähle ich
daher die weibliche Form.
Es ist nicht nur ein Problem der Gemeinde, sondern der gesamten Gesellschaft, aber in der
Kirche "spitzt sich die Sache noch zu" weil
1) eine Autorität (Prediger, Elternfigur...) und eine Vertrauensbeziehung missbraucht und
zertrümmert wird;
2) einige Leute denken, die Gemeinde wäre ein sicherer Ort wo so etwas " nicht
vorkommen könnte oder sollte"!;
3) das "offene Reden" über Probleme der Sexualität in vielen adventistischen
Familien und Gemeinden besonders schwer ist (Dualismus);
4) einige Gemeinden (besonders der Karibik) das Thema tabuisierten, um den guten Ruf zu
bewahren. Heute klagen aber viele der Opfer an, und das Bild der Gemeinde hat stark
gelitten: zum einen wegen des Verbrechens selbst, hauptsächtlich aber wegen des
Verheimlichungsversuches (Verdrängung)!
Das Problem existiert also auch bei uns. Es gibt zwar (noch) keine offizielle Untersuchung
oder Forschung, aber so wie es Ungerechtigkeit und Mobbing in der Gemeinde gibt, sind wir
auch vom Missbrauch nicht verschont.
Zum Thema möchte ich noch folgendes sagen:
1) Kaum eine Adventgemeinde ist ohne Missbrauch (wir finden verschiedene Formen);
2) Je älter und grösser die Gemeinde ist, um so mehr Fälle finden wir, was statistisch
ganz logisch ist.
Auch die Bibel spricht von sexuellem Missbrauch, zum Beispiel im Stammbaum Jesu in
Matthäus 1, 1-17. Kapitel 1 berichtet über Licht-, und über Schattenseiten: über die
Herkunft, die Geburt und die Vorgeschichte des Auftretens Jesu.
Dieser Aufbau will uns zeigen, das Jesus eine dreifache Funktion ausübt, und eine
dreifache Überlegenheit besitzt:
1) Er ist Patriarch der Patriarchen, V. 2-5;
2) Er ist König der Könige, V. 6-12;
3) Er ist Priester der Priester, V. 13-17.
Zur gleichen Zeit finden wir einige faulen Äste in seinem Stammbaum, und die haben
besonders mit Mobbing und Missbrauch zu tun, sogar mit sexuellen Missbrauch:
V.3 : Juda... Tamar: Blutschande, Inzucht;
V.5 : Rahab...: Prostitution;
V.5 : Ruth, die Moabiterin: eine Ausländerin, mit welcher man "normalerweise"
keinen Kontakt haben durfte;
V.6: David und die Frau von Urijas: Ehebruch und dann Mord.
Eine grosse Lehre besteht für mich darin, dass all diese Misshandlungen, diese
Störungsbilder, diese Verletzungen, mit Gottes Gnade überwunden werden können, wenn wir
uns von Ihm adoptieren lassen!
II. Missbrauch erkennen
Sehr oft machen Betroffene die Erfahrung, dass ihnen nicht geglaubt
wird. Von sich aus zu reden ist sehr schwer, weil man zum Schweigen gezwungen wird (auch
in den Gemeinden), und sich für das Vorgefallene schämen muss, wenn dem Betroffenen noch
dazu die Schuld in die Schuhe geschoben wird!
Missbrauch kann entdeckt werden durch:
1) Hinweise durch Andere: Ärzte, Lehrer, Nachbarn, Verwandte, Freunde, denen etwas
aufgefallen ist;
2) Hinweise des Betroffenen: mündlich. Z.B: "ich bin zu gross um in
Papa's Bett zu schlafen..."; oder durch bildliche oder spielerische Hinweise.
Sie sind mit grosser Vorsicht zu handhaben, weil ihre Interpretation durch den Betroffenen
falsch sein kann.
3) Hinweise durch Symptome:
- Verletzungen des eigenen Körpers (beissen, kratzen, Haare ausreissen, Gegenstände in
Darm oder Vagina einführen, Prügeleien, Brand- und Schnittwunden, Drogen,
Selbstmordversuche...);
- Krankheiten, Schmerzen: ansteckende Geschlechtskrankheiten, anale, orale oder vaginale
Veletzungen...;
- Psychische Symptome: Depressionen, langanhaltende Schlafstörungen, Interessenlosigkeit,
Appetitlosigkeit, Selbstmordgedanken, Wut...;
- Sexualverhalten: Auffällige sexuelle Spiele mit anderen Kindern, wiederholtes Zeigen
der Genitalien, Malen von Figuren mit Geschlechtsorganen, Prostitution, pornographisches
Modellstehen;
- Entwicklungs- und Verhaltensstörungen: Regression, pathologisches Schuldgefühl (zu
grosse Schande), starke Verantwortungsübernahme, Verweigerungen, Konflikt mit dem Gesetz,
Lernstörungen, Rachelust, schlechte Anpassungsfähigkeit ...
III. Mögliche Folgen und Schäden des Missbrauches
Jeder Betroffene, jedes Opfer, erlebt den Missbrauch auf ihre eigene Weise und versucht
auf seine eigene Weise damit umzugehen.
- Manche sind traurig, zurückgezogen, isoliert;
- Andere verletzen sich selbst oder andere;
- Manche sind wütend und/oder aggressiv;
- Manche haben körperliche Beschwerden, deren Ursachen nicht zu erklären sind;
- Manche flüchten sich in eine Phantasiewelt, wirken abwesend;
- Es gibt auch diejenigen, die sich ihre Verletzungen nicht anmerken lassen: nach aussen
sind sie immer fröhlich;
- Schliesslich gibt es aber auch viele Betroffene, die all diese "Symptome" in
sich vereinigen.
IV. Präventionsmassnahmen und Heilung der
Missbrauchserfahrung
Viele meiner Patientinnen haben mir gezeigt dass sie innerlich starkt verletzt sind, Opfer
eines echten "Seelenmordes".
Die ersten Lösungsansätze sollten darin bestehen, dass mit verschiedenen Mythen in
unseren Familien und Gemeinden aufgeraümt wird:
1) "Bei uns gibt es keinen Missbrauch". Wenn wir ehrlich sind und
darüber nachdenken, finden wir einige Missbrauchfälle.
2) "Mag sein, dass es bei uns Missbrauch gibt, aber es ist harmlos und gar nicht
so schlimm". Hier haben wir eine Abwehrreaktion. Es ist ein unbewusster Vorgang
, durch den man sich nicht in Frage zustellen braucht. Man leugnet, oder verweigert, oder
man bagatellisiert. Möglicherweise sucht man sich einen Sündenbock: " ... du
hast es doch gesucht...". Missbrauch kann nie harmlos sein; oder nur in den
Augen der Täter!
3) "Als einfaches Gemeindemitglied kann ich nichts unternehmen gegen
Missbrauch". Die Lösung heisst jedoch: Hinschauen und Handeln. Die Augen
öffnen, in seinem eigenen Leben, in seiner Familie, in seiner Gemeinde. Über
Missbrauchfälle berichten, diskutieren, helfen wo es nötig ist.
Es ist auch wichtig sich im Klaren über die verschiedenen Formen des Missbrauches zu
sein, denn es gibt nicht nur sexuelles Verbrechen.
Es gibt:
1) Missbrauch durch körperliche Gewalt: Erpressung, Nötigung, Belästigungen,
Verprügeln...
2) Verbalen und psychischen Missbrauch: Schmeicheln; Überführen; Manipulieren;
Erpressen: " Du darfst nichts davon erzählen. Es ist doch unser schönes
Geheimnis. Denk an deine Familie..."
3) Stummen Missbrauch: Stillschweigendes Verachten, Ignorieren um unter Druck zu
setzen, Diskriminierungen, Verführen ...
Die Gemeinde sollte auch dazu beitragen, ein wärmeres Klima zu schaffen in den
Beziehungen; mehr Toleranz üben.
Als konkrete Lösungen und Hilfsmittel hier, noch einige Ideen und/oder Ratschläge:
1) Macht eure Kirche zu einer sicheren Zuflucht, besonders für Frauen und Kinder.
Alle Menschen müssen sich darauf verlassen können, dass man sich um sie kümmert, und
sie nicht als Sündenböcke oder als Unruhestifter abstempelt, wenn sie einen Missbrauch
anzeigen;
2) Zeigt zuerst christliche Liebe: Zuhören, das Leid anerkennen und bestätigen,
Unterstützung anbieten, zu weiteren Schritten ermutigen, zu der Person stehen, der
christlichen Liebe Ausdruck geben;
3) Reagiert schnell: Wenn ich euch nicht sicher seid, wie ihr reagieren sollt,
bittet jemanden mit mehr Erfahrung um Hilfe;
4) Glaubt es: Auch wenn Zweifel bestehen, ob die Behauptungen wahr sind, müssen
sie ernst genommen und wenn möglich überprüft werden ;
5) Gebt nicht dem Opfer die Schuld: Aus kirchlicher Sicht mag es schmerzlich sein,
zugeben zu müssen, dass ein Gläubiger eine solche Tat begangen haben kann, noch dazu
wenn es sich um eine ordinierte Person handelt! Trotzdem darf auf keinen Fall dem Opfer
die Schuld zugeschoben werden. Drohungen, Vegeltung, Einschüchterungen, Klatsch, etc,
dürfen auch nicht ansatzweise toleriert werden
6) Helft der Gemeinschaft gesunden: Unsere Gemeinden brauchen die gleiche
zärtlich-liebevolle und gerechte Anteilnahme wie der Kläger (Klägerin) und der (die)
Angeklagte. Ein Team, das sich um die Gemeinden bemüht ist unbedingt erforderlich. Viele
Gemeindeglieder fühlen sich verraten, nicht verstanden. Kummer, Ärger und Streit sind
normale Teile dieses Trauerprozesses. Darum: redet miteinander! Die Gemeinde sollte eine
Anlaufstelle anbieten, wo Geborgenheit und Annahme erfahren werden kann!
7) Pflegt einen klaren Handlungskodex für die pastorale Beratung , und achtet auf die
Grenzübertretungen und die Ortsverletzungen: Mögliche Richtlinien sind: eine
begrenzte Anzahl von Sitzungen; die begrenzte zeitliche Dauer einer Sitzung; Beratung bei
Personen des anderen Geschlechts nur, wenn weitere Personen anwesend sind ...
8) Findet was motiviert, entdeckt Ziele: Das Opfer, auch die betroffene Gemeinde,
brauchen etwas, das zum Leben motiviert;
9) Vermittelt Therapie und Seelsorge: Professionelle Hilfe sollte so früh wie
möglich nach Bekanntwerden oder Aufdecken des Missbrauches eingesetzt werden.
Ich würde Hilfe und Heilung in drei Schwerpunkten gliedern:
1) praktische Hilfe:
- Ratsuchenden Informationen über Missbrauch geben;
- Gemeinsam Arzt/Frauenarztbesuche machen, Aufklärung anbieten;
- Mehr Ehe-/Partnerberatung bei der Erziehung, im Religionuntericht, in der Jugendstunde
anbieten...
2) Methoden, die eine Heilung unterstützen:
- Unsere Gemeindeglieder müssen lernen, eigene Gefühle und Wünsche, Ängste und
Erwartungen zu erkennen und auszudrücken;
- "Nein" (nicht immer "Ja") sagen (Jesus meinte: sage "nein"
wenn es sein soll, und "Ja" wenn es angebracht ist); und Grenzensetzen lernen;
- Es muss Gelegenheit geben, Wut, Zorn und Trauer auszuleben (Rituale wie Abendmahl,
Gebetsstunde... sind angebracht);
- Hilfe, um wieder Vertrauen in Menschen, Autoritätspersonen (sogar in Gott) zu gewinnen;
3) Seelsorge:
- Es ist unverzichtbar wichtig, dass die Betroffenen Vergebung finden, aussprechen und
austauschen können;
- Für Betroffene (auch Täter), muss bedingungslose Liebe, Annahme, Halt und Geborgenheit
erlebbar werden;
- Ihnen muss es ermöglicht werden, neues Leben und Hilfe zu finden;
- Es muss ihnen durch Seelsorger und Therapeuten ermöglicht werden, Lösung und Befreiung
von Bindungen zu erfahren, zum Beispiel durch ein Übergangsritual, mit den drei Stufen:
1) Trennung von einer traumatisierenden und zerstörenden Vergangenheit;
2) Neues Erlernen: Heilsame Denk- und Verhaltensweisen erlernen;
3) Integrierung in ein neues System von Vergebung, Versöhnung, und neuem Sinn...
Wie gesagt: Heilung braucht seine Zeit. Alle Schritte auf dem Weg der Heilung orientieren
sich an dem Können und Wollen des Betroffenen; und an seiner Bereitschaft, menschliche,
und vor allem göttliche Hilfe anzunehmen!
Dr. Jean-Michel MARTIN
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